Kundenservice der Zukunft: die Rolle von Mensch und Technologie

Maschinen sind nützlich, aber die Interaktion mit Kunden war, ist und bleibt eine Angelegenheit für Menschen.

Eines Morgens, der Schnee lag hoch, schnürte sich die 11-jährige Heidi O’Neill – heute President of Consumer and Marketplace bei Nike – die Stiefel, um zur Schule zu stapfen, als ihrem Vater eine Idee kam. Was wäre, wenn seine Tochter stattdessen mit Skiern zur Schule fahren würde?

Im nördlichen Michigan, USA, vergnügten sich in den Sommermonaten sowohl Einheimische als auch Touristen beim Wassersport auf den nahegelegenen Seen. Aber in Heidis Heimatstadt Charlevoix gehörte auch Schnee für einen großen Teil des Jahres zur Normalität.

Heidis Eltern besaßen ein Sportgeschäft und ihr Vater als Geschäftsmann war immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Umsatz zu steigern. Da die Boote nun im Winterlager waren und es viele Waldwege in der Nähe gab, hatte er sich mit Langlaufskiern eingedeckt. Doch diese lagen wie Blei in den Regalen.

„Wie wäre es, wenn ich die örtliche Zeitung anrufe, damit sie ein Foto von Heidi machen?”, dachte Heidis Vater. Das könnte den Einwohnern der Stadt als freundliche Erinnerung dienen, dass Portside Sports, sein Geschäft, auch ihre Wintersportbedürfnisse erfüllen kann.

„Papa hatte schon immer ein gutes Gespür für Publicity”, erinnert sich O’Neil.

Während Heidis Klassenkameraden sich an jenem verschneiten Morgen abmühten, vor dem Läuten in der Schule anzukommen (manche schafften es gar nicht), wartete ein Fotograf des Charlevoix Courier darauf, ein Foto von ihr zu machen, wie sie zur Eingangstür gleitet. Als das Bild am nächsten Tag auf der Titelseite der Zeitung erscheint, schießen die Skiverkäufe sofort nach oben.

Aber der eigentliche Coup war, dass Heidis Vater in seinem Geschäft auch einen Skilanglaufclub gründete. Plötzlich verkaufte Portside Sports keine Skier mehr, sondern das Skifahren selbst. Man kaufte keine Sportausrüstung für 50 Dollar, sondern übte sich in einer neuen Fertigkeit, traf neue Leute und hatte etwas, auf das man sich jedes Wochenende freuen konnte. Ein zuvor langweiliges Verkaufsereignis wurde mit Emotionen und menschlicher Interaktion bereichert.

Heute sagt O’Neill, dass ihr Starauftritt als Skilangläuferin noch immer ihren „datengesteuerten und persönlichen Ansatz im Einzelhandel” beeinflusst.

Kundenservice der Zukunft: Technologischer Fortschritt und menschliche Wärme

Heidis Vater hatte zwar keinen Zugang zu den Neuen Medien oder Technologien wie dem maschinellen Lernen. Aber er verfügte über genügend Know-how im Verkauf, um zu erkennen, dass der Absatz von Waren von einem markanten Kundenerlebnis abhängt. Manche Dinge ändern sich nie.

Die digitalen Tools von heute eignen sich hervorragend, um Erlebnisse zu vermitteln, sind aber kein Ersatz für die Erlebnisse selbst.

Eine Umfrage des Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers (PwC) hat ergeben, dass 82 % der Amerikaner „im Zuge der zunehmenden technologischen Entwicklung lieber mit einer echten Person interagieren möchten.” Oder wie O’Neill es ausdrückt: „Wenn man mit den Verbrauchern spricht, zeigt sich, dass sie immer noch am liebsten durch Anfassen und Anprobieren einkaufen.”

Nikes Führungskräfte können sicherlich nicht dieselben Beziehungen zu ihren Kunden pflegen wie ein Ladenbesitzer in der Kleinstadt. Im Jahr 2022 können die Technologien jedoch dazu beitragen, einen persönlichen und menschlichen Kundenservice in großem Umfang zu ermöglichen. Nike hat die letzten Jahre damit verbracht, Daten zu nutzen, Apps zu entwickeln und Abläufe zu optimieren, um das Kundenerlebnis zu vertiefen und zu erweitern und bietet damit eine aussagekräftige Fallstudie.

„Wir wissen, dass die Digitalisierung der neue Maßstab ist”, sagte Nike CEO John Donohoe, vor Kurzem. „Der Verbraucher von heute ist digital verankert und wird das nicht wieder aufgeben.”

Nikes Umstellung auf den Einsatz digitaler Werkzeuge, um personalisierte Kundendienste zu erweitern, begann lange vor COVID-19. Im Jahr 2018 wurde Nike by Melrose gestartet, ein „Live”-Konzeptstore, der die Produkte in die Regale stellt, die bei den Mitgliedern des NikePlus-Clubs am meisten Anklang finden. In ihrem House of Innovation in New York City können die Mitglieder persönliche Beratungsgespräche mit Schuhexperten vereinbaren. Zugleich bietet die Location in Shanghai Workshops, Redner und digital geführte Testsessions an.

In jüngster Zeit hat das Unternehmen auch eine Reihe von neuen Online-Plattformen ins Leben gerufen. So zum Beispiel Nike SNKRS, ein E-Commerce-Hub für Sammlersowie Fitness-Apps wie Nike Run Club und Nike Training Club. Indem Nike sich von seinen treuesten Kunden inspirieren lässt, kann die Firma das Kundenerlebnis für alle anderen verbessern. Solche Mitgliedschaften funktionieren ähnlich wie der alte Skilanglaufclub in Charlevoix:. Nike-Kunden kaufen keine Laufschuhe, sie werden zu Läufern.

Nike digital strategy

„Die Digitalisierung ist das Mittel, mit dem wir die Zukunft des Einzelhandels gestalten”, sagt CEO Donohoe. Aber das allein ist nicht die Zukunft.

Digitalisierung und menschliche Erfahrung

Während sich viele Verbraucher bereits daran gewöhnt haben, mit Marken auf digitalem Wege in Kontakt zu treten, haben die COVID-19-Pandemie und die daraus resultierenden Geschäftsschließungen diesen Trend in allen Branchen beschleunigt. Eine Studie von Oracle hat ergeben, dass zwei Drittel der Unternehmen bereits neue Technologien im Kundenservice einsetzen, um das Kauferlebnis zu verbessern – darunter Virtual Reality (VR), Chatbots und künstliche Intelligenz (KI).

Dennoch ist Technologie kein Wundermittel für die Bereitstellung von qualitativ hochwertigem Service, ganz zu schweigen von denkwürdigen Erlebnissen. Einige Kundenerlebnisse sind digital, andere analog. Doch von Unternehmen wird zunehmend erwartet, dass sie beide Services miteinander verbinden. Nahezu ein Viertel der Starbucks-Bestellungen in den Vereinigten Staaten erfolgt inzwischen über eine mobile App, aber das bedeutet wenig, wenn der Kaffee kalt ist, sobald der Kunde ihn abholt. Das Coachella Musikfestival hat eine App, mit der die Besucher die Shows markieren können, die sie sehen möchten, um daran erinnert zu werden. Doch das ist unerheblich, wenn die Show mies war.

Laut PwC sagen 73 % aller Kunden, dass ihre Kundenerfahrung ein zentraler Faktor für ihre Kaufentscheidungen ist. Unabhängig von der Unternehmenskultur kann ein einziges schlechtes Kundenerlebnis Ihr Unternehmen lähmen. Weltweit geben 32 % der Menschen an, dass sie eine Marke nach einem einzigen Missgeschick nicht mehr nutzen würden. So hart das auch klingt, die Kunden sind ebenso bereit, Unternehmen für guten Service zu belohnen. So  sind sie bereit, 16 % mehr für eine Tasse Kaffee, 10 % mehr für Flugtickets und 7 % mehr für eine Autoversicherung zu bezahlen vorausgesetzt, sie erhalten dafür einen erstklassigen Kundenservice.

Ein Teil des Mehrpreises, den Sie für den Starbucks Latte zahlen, kommt daher, dass Sie ihn bequem per App bestellen können. Noch ein Teil kommt daher, dass der Barista darauf ihnen Kaffee mit Sojamilch serviert. Und ein weiterer Teil kommt daher, dass die Bedienung Sie mit Namen anspricht. Ausgefeilte Apps und reibungslose digitale Schnittstellen zum Kunden erhöhen den Komfort und erleichtern die individuelle Anpassung, während lästige Dinge wie lange Warteschlangen oder komplizierte Abrechnungsverfahren wegfallen. Aber egal wie cool die App auch sein mag, Technologie allein ist ein schlechter Ersatz für Service oder die Kundenerfahrung.

Die einfache Wahrheit ist, dass Menschen zwar immer geschickter im Umgang mit digitalen Werkzeugen werden, Maschinen (in ihrer heutigen Form) dagegen nicht annähernd so gut mit Personen auf einer menschlichen Ebene interagieren können.

Sicher, Maschinen können Kommunikation anstoßen – wie sie es heutzutage schon ganz eindeutig machen – aber bei echter Kommunikation geht es vor allem um Beziehungen. Selbst ausgeklügelte KI-Lernmaschinen können nur begrenzt Einfühlungsvermögen und psychologische Unterstützung bieten. Dies gilt insbesondere in Krisen- oder Notsituationen, in denen es keine Präzedenzfälle (oder Programmierroutinen) gibt, denen sie folgen könnten.Technologie an sich verärgert Kunden nicht: Es sind die Distanz und die Dissonanz, die durch Bildschirme und Algorithmen geschaffen wird, die zu Frustration führen. Komplexe Probleme erfordern maßgeschneiderte Lösungen, die (vorerst) immer noch am besten von Menschen geliefert werden.

In vielen Branchen hat die Geschwindigkeit, mit der Technologien übernommen wurden, unser Verständnis für ihre Auswirkungen überholt. Wann immer es sich lohnt, etwas umzusetzen, ist es auch die extra Zeit wert, um den besten Ansatz für alle Beteiligten zu hinterfragen und zu analysieren. Wenn man den aktuellen Trends Glauben schenken darf, sind die Verantwortlichen der Unternehmen gut beraten, über die Auswirkungen der Interaktion zwischen Maschine und Mensch nachzudenken. Ganz besonders, wenn sich die Kommunikation zwischen Unternehmen und Verbrauchern auf einer technischen Ebene abspielt.

„Die einfache Frage lautet: Wie können wir sicherstellen, dass die Verbraucher bekommen, was sie wollen, wann sie es wollen und wie sie es wollen?“, sagt Nike CEO Donohoe. „Sei es digital, physisch oder durch eine Mischung aus beidem.” Wie lautet Ihre Antwort auf diese Frage?

Dieser Artikel ist zuerst auf thecxreview.com erschienen – entdecken Sie dort viele weitere spannende Themen rund um den Kundenservice der Zukunft.

CX Review launch banner